Page 142 - EMF von Stromtechnologien
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 EMF von Stromtechnologien
Kognitive Modelle haben lange Zeit die Forschung zur Risikowahrnehmung und zur Entscheidungsfin-
dung unter Unsicherheit dominiert, bis vor Kurzem die Wichtigkeit des Zusammenspiels zwischen Af- fekt (Gefühlen) und Risikowahrnehmung anerkannt und zum Untersuchungsgegenstand neuerer For- schung wurde (Finucane & Holup, 2006), (Loewenstein et al., 2001), (Slovic et al., 2004). So postulie- ren Slovic und Kollegen (2004) im Rahmen der von ihnen beschriebenen Affektheuristik zum Beispiel, dass Personen die Beurteilung von Nutzen und Risiken einer Technologie anhand der durch die Tech- nologie ausgelösten Gefühle vornehmen. Im Falle von positiven Gefühlen wird der Nutzen als hoch und die Risiken als tief eingeschätzt und im Falle von negativen Gefühlen verhält es sich umgekehrt. Die Wichtigkeit des Affekts im Hinblick auf die Wahrnehmung und Akzeptanz von Energieinfrastruktu- ren wurde im Zusammenhang mit Kernenergie (Peters & Slovic, 1996), erneuerbaren Energien (Visschers & Siegrist, 2014) und auch Stromleitungen (Lienert et al., 2015) (Lienert et al., 2017a) nachgewiesen.
5.2.2.2 Emotionale Bindung an den Heimatort und ortsgebundene Identität
Emotionen spielen auch eine Rolle, wenn es um die Standortwahl für Stromleitungen und -masten geht. Projekte im Zusammenhang mit dem Bau von Energieinfrastruktur stossen bei der lokalen Be- völkerung oft auf erbitterten Widerstand. Dabei steht die tiefe Akzeptanz der lokalen Bevölkerung im Gegensatz zur hohen Akzeptanz der Allgemeinbevölkerung. Ein früher vielfach herangezogener Er- klärungsansatz für die lokale Opposition gegen Infrastrukturprojekte ist der NIMBY-Ansatz (Not In My Backyard). Dieser geht von einer egoistischen Grundhaltung der lokalen Bevölkerung aus, die Infra- strukturprojekte nur so lange befürwortet, wie sie nicht persönlich durch negative Auswirkungen beein- trächtigt wird. Es besteht jedoch ein breiter wissenschaftlicher Konsens darüber, dass der NIMBY-An- satz keine adäquate Erklärung für den lokalen Widerstand gegen Energieinfrastrukturprojekte darstellt (Devine-Wright & Devine-Wright, 2009). Hierzu merken Liebe & Dobers (Liebe & Dobers, 2019) aller- dings an, dass die geringe wissenschaftliche Evidenz für den NIMBY-Ansatz möglicherweise metho- disch begründet ist. Während frühere Studien als Mass für NIMBY die Distanz zwischen der jeweiligen Energieinfrastruktur und dem Wohnhaus eines Individuums heranziehen, definieren Liebe & Dobers NIMBY als Überzeugung, welche optimalerweise über verschiedene Befragungsitems erhoben wer- den sollte.
Die Konzepte der emotionalen Bindung an den Wohnort (place attachment) und der ortsgebundenen Identität (place identity) bieten eine naheliegendere Erklärung für die lokale Opposition gegen Infra- strukturprojekte. Gemäss Devine-Wright und Devine-Wright (2009) (Devine-Wright & Devine-Wright, 2009) reagiert die lokale Bevölkerung dann mit Widerstand, wenn sie durch ein Projekt die existie- rende emotionale Bindung an den Wohnort sowie ortsgebundene Identitätsprozesse (d.h. das Mass, in dem physikalische und symbolische Aspekte des Ortes zur Identität beitragen) gefährdet sehen. Die Beurteilung und die Reaktion im Hinblick auf ein Infrastrukturprojekt sind dabei abhängig von den örtli- chen und landschaftlichen Charakteristika. Je nach Gegebenheiten kann ein Infrastrukturprojekt die emotionale Bindung und die ortsbezogene Identität auch verstärken. Bei einer Ortschaft, die als In- dustriestandort wahrgenommen wird, ist weniger Opposition zu erwarten, da ein Infrastrukturprojekt eher im Einklang mit der emotionalen Bindung an den Ort und der ortsbezogenen Identität steht und auch als Chance wahrgenommen werden kann. Dies ist bei einer Ortschaft, die sich durch die Schön- heit der landschaftlichen Umgebung und als Erholungsort auszeichnet, weniger der Fall (van der Horst, 2007). Eine landschaftliche Umgebung und ein Strommast zum Beispiel sind aus der Sicht der Leute von ganz unterschiedlichem Wesen und daher unvereinbar (Batel et al., 2015). So stösst etwa die Errichtung von Strommasten in Naturräumen wie dem Wald oder dem offenen Feld auf weniger Akzeptanz als die Positionierung neben einer bereits bestehenden Infrastruktur (Zaunbrecher et al., 2017). Der Einfluss der Bindung an den Wohnort und der ortsgebundenen Identität auf die Akzeptanz von Projekten wurde in Studien zur Förderung erneuerbarer Energien (Devine-Wright & Howes,
2010), (Strazzera et al., 2012) wie auch in Studien zur Errichtung von Stromleitungen (Devine-Wright, 142/204
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