Page 82 - EMF von Stromtechnologien
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EMF von Stromtechnologien
Ruhepotenzial von über 50 mV ist das wenig, soll aber ausreichend gross sein, um auf zelluläre bio-
chemische Prozesse einwirken zu können (etwa Beeinflussung der Signalübermittlung). Alle diese im Wesentlichen auf Modellannahmen beruhenden Argumente und Grössenordnungen sollten mit Vor- sicht interpretiert werden; nicht zuletzt, weil die Gültigkeit der Kontaktstrom-Hypothese wissenschaft- lich nicht bewiesen ist und epidemiologische Daten zum postulierten Zusammenhang kaum vorhan- den sind.
Ähnliches liegt vor für die Hypothese, dass Ionen der Koronaentladung mit dem Wind in die Umge- bung getragen werden und sich dort an Luftschadstoffe anlagern, insbesondere Benzol, welches als Kanzerogen für Leukämie bekannt ist. Weil elektrisch nicht-neutrale Luftschadstoffe besser vom Orga- nismus absorbiert werden, könnte demnach das Risiko für Leukämie in der Nähe von Hochspan- nungsleitungen grösser sein als im weiteren Umfeld. Die Hypothese wurde von einer englischen For- schungsgruppe formuliert und untersucht (Fews et al., 1999). Eine Studie von Swanson et al. (2014), in der die Windrichtung modelliert und statistisch berücksichtigt wurde, konnte diese Hypothese nicht bestätigen. Jeffers (2015) kam mit einem differenzierteren Verbreitungsmodell zu demselben Befund. Auch wurde die Bedeutung im Vergleich mit Hintergrundbelastungen und mit Umwelteinflüssen bei- spielsweise des Strassenverkehrs relativiert (Jayaratne et al., 2008), (Jayaratne et al., 2015). Nicht zuletzt sei darauf hingewiesen, dass Koronaionen v.a. bei Gleichstromleitungen (HGÜ) gebildet wer- den und räumlich weiter diffundieren als bei Wechselstromleitungen (Fews et al., 2002). Auch ist zu erwähnen, dass der Zusammenhang zwischen ionisierten Luftschadstoffen, Atemwegserkrankungen und Leukämie weitgehend ungeklärt ist, siehe dazu etwa: Alexander et al. (2013).
Neue Studien seit 2017
Seit 2017 haben mehrere Publikationen evaluiert, ob der Zusammenhang zwischen Kinderleukämie und NF-MF auf Störgrössen zurückzuführen ist. In einer Review von fast 70 Publikationen wurde we- nig Hinweise für ein Confounding gefunden (Kheifets, Swanson, et al., 2017). Der Einfluss der Wohn- sitzmobilität auf das Studienergebnis ist komplex und kann sich als Selektionsbias, Confounding oder Expositionsmissklassifikation manifestieren. Eine vertiefte Analyse anhand der kalifornischen Fall- Kontrollstudiendaten kam jedoch zum Schluss, dass es unwahrscheinlich ist, dass die Wohnsitzmobili- tät zu einem Bias führt (Amoon, Oksuzyan, et al., 2018), obwohl in einer zusätzlichen Simulationsstu- die ein gewisser Effekt gefunden wurde (Amoon et al., 2019). Die Art des Hauses ist ebenfalls ein un- wahrscheinlicher Confounder für Kinderleukämie und NF-MF (Amoon, Crespi, et al., 2020).
Viele Studien zu Kinderleukämie beruhen entweder auf der Distanz des Wohnortes zur nächsten Hochspannungsleitung oder des NF-MF, welches entweder berechnet oder modelliert wurde. Amoon, Swanson, et al. (2020) haben anhand von Daten aus Grossbritannien und den U.S. den Zusammen- hang dieser beiden Grössen evaluiert. Sie kamen zum Schluss, dass die berechneten NF-MF mit zu- nehmender Entfernung von Freileitungen linear abnehmen, insbesondere bei Freileitungen von 200 kV und darüber. Diese Ergebnisse sind in den britischen Daten stärker ausgeprägt. Innerhalb von 100 m korreliert der Abstand zu Hochspannungsleitungen stark mit den berechneten NF-MF, und beide können als Proxy für das jeweils andere Mass genommen werden.
In diesem Zusammenhang wurde eine Neu-Analyse der kalifornischen Daten durchgeführt und es zeigte sich, dass das erhöhtes Kinderleukämierisiko auf die Gruppe beschränkt war, die sowohl sehr nahe an Hochspannungsleitungen (< 50 m) als auch hohen berechneten Feldern (≥0,4 μT) ausgesetzt war (Odds Ratio: 4.06, 95% CI 1.16, 14.3) (Crespi et al., 2019). Ausserdem waren hohe berechnete Felder (≥ 0,4 μT), die ausschliesslich auf Niederspannungsleitungen (< 200 kV) zurückzuführen wa- ren, nicht mit einem erhöhten Risiko verbunden. Die Autoren sehen in den Ergebnissen einen Hin- weis, der gegen Magnetfelder als alleinige Erklärung für den Zusammenhang zwischen Entfernung und Leukämie im Kindesalter spricht und dass auch andere Eigenschaften von Hochspannungsleitun- gen eine Rolle spielen könnten. Sie geben aber keine konkreten Mutmassungen ab, was das sein könnte. Es ist auch denkbar, dass es sich bei der Gruppe in der Nähe von Hochspannungsleitungen
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