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EMF von Stromtechnologien
auf das Gleichgewichtssystem ist dabei von besonderem Interesse, in Anbetracht seiner entscheiden-
den Rolle bei der Körperkontrolle und seiner besonderen neurophysiologischen Eigenschaften. Bishe- rige Untersuchungen haben keine schlüssigen Resultate geliefert. Es sei auf drei neuere Studien der- selben Forschungsgruppe verwiesen (Bouisset et al., 2020a, 2020b; Villard et al., 2019). Insgesamt zeigten sich in diesen drei Studien unter den gewählten Bedingungen keine Anzeichen auf Auswirkun- gen auf die Körperkontrolle.
4.3.6.7 Die Radikalpaar-Theorie als möglicher Interaktionsmechanismus
Neben den hier vorgestellten Studien gibt es noch eine Vielzahl weiterer vor allem zellexperimentel- len, Untersuchungen auf die hier nicht eingegangen wurde. Es handelt sich dabei um Experimente, die zwar mechanistisch von Interesse sind, sich aber nicht leicht in einen gesundheitlichen Themenbe- reich einordnen lassen. In diesem Zusammenhang sind Studien besonders erwähnenswert, die sich auf das quantenphysikalische Modell der magnetsensitiven Radikalpaare beziehen. Viele für die Zell- physiologie wichtige biochemischen Prozesse, laufen über transiente Reaktionszwischenstufen ab, in der Moleküle mit ungepaarten Elektronen (Radikale) existieren, die schliesslich in neuen chemischen Verbindungen enden. Bedingt durch die zwei möglichen gegenläufigen Drehrichtungen («Spin») der Elektronen können diese Radikalpaare zwei Konfigurationszustände annehmen («singlet» und «triplet state»), die das Produkt beziehungsweise die Kinetik und das Gleichgewicht der Reaktion bestimmen. Gemäss diesem Modell sind diese Zustände durch externe Magnetfelder beeinflussbar, was als Schnittstelle zwischen dem physikalischen Magnetfeld und biochemischen Prozessen verstanden werden kann und somit eine konzeptionelle Erklärung für eine Wahrnehmung von Magnetfeldern be- ziehungsweise möglicher Störung zellulärer Gleichgewichte liefert (Barnes & Greenebaum, 2018; Hore & Mouritsen, 2016; Juutilainen et al., 2018; Zadeh-Haghighi & Simon, 2022). Im Fokus des Inte- resses standen dabei die Beeinträchtigungen von oxidativen Prozessen, die zu Veränderungen von ROS-Bildung führen könnten, und der Magnetsinn von Zugvögeln, Insekten und Pflanzen.
Bezüglich der Hypothese des Magnetsinns basierend auf den Radikalpaar-Mechanismus gibt es eine Reihe neuerer Studien, in der Kryptochrom-Proteine eine zentrale Rolle spielen. Kryptochrome und verwandte Proteine, die sich in vielen Organismen finden lassen, gehören zu den Blaulichtrezeptoren und sind in der Lage mit Hilfe von Flavin-Kofaktoren (FAD) Elektronen zu transportieren, wobei tran- siente Radikalpaare gebildet werden. Im Menschen gibt es auch Kryptochrome, die an der Regulie- rung des zirkadianen Rhythmus beteiligt sind. Eine neuere Publikation liefert eine gute Evidenz für eine Rolle von Kryptochrom für den Erdmagnetfeldsinn von Zugvögeln mittels des Radikalpaar-Me- chanismus (Xu et al., 2021). Im Weiteren haben Fedele und Kollegen in Fruchtfliegen gezeigt, dass ein statisches 500 μT Magnetfeld ein erdmagnetfeldabhängiges Verhalten veränderte, dies in Abhän- gigkeit von Blaulicht und einem Kryptochrom, wobei letzteres durch menschliche Kryptochrome ersetzt werden konnte (Fedele et al., 2014). Tatsächlich konnte eine schwache Beeinträchtigung des Elektro- nentransports durch ein starkes Magnetfeld (22 mT) mittels isoliertem Kryptochrom der Fruchtfliege nachgewiesen werden (Sheppard et al., 2017). Statische Magnetfelder veränderten auch die lichtab- hängigen Aktivitäten der mit den tierischen Kryptochromen verwandten Blaulichtrezeptoren von Pflan- zen und Photolyasen, die ein Reparaturenzym für lichtinduzierten DNS-Schäden sind (Pooam et al., 2019; Zwang et al., 2018). Eine Reaktion auf externe 10 Hz gepulstes Magnetfeld (2 mT) wurde in der Studie von Sherrard (Sherrard et al., 2018) gefunden. In Abhängigkeit von Kryptochrom vermieden die Fruchtfliegenlarven diese Felder, wobei wiederum das menschliches Kryptochrom dessen Funktion einnehmen konnte. Zudem wurde berichtet, dass die gleiche Exposition in menschlichen und Maus- zellen zu einer Kryptochrom-abhängigen Bildung von ROS führte. Interessanterweise führte eine Re- duktion des Erdmagnetfeldes zu einer ähnlichen Zellreaktion, was die Autoren als Hinweis für eine Wirkung von externen Feldern über transienten Veränderungen von Erdmagnetfeld-gesteuerten Pro- zessen deuten (Pooam et al., 2020). In diesem Zusammenhang wäre es also durchaus vorstellbar, dass externe Magnetfelder sich auf Zelldifferenzierungs- und Entwicklungsprozesse auswirken, die
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